Montag, 1. Juni 2009

Das Wesen des Totalitarismus

Viele Menschen haben seit langer Zeit versucht, das Wesen totalitärer Strukturen zu ergründen. Dabei wurden nicht selten emotionale Urteile gefällt, die zwar dem Gewissen gut tun, dem Verständnis jedoch nicht weiterhelfen. Da werden Diktatoren als ein entmenschlichtes Böses dargestellt, das mit dem normalen Bürger auf der Strasse nichts gemein haben soll. Es wird versucht, die Schlechtigkeit totalitärer Gedankenkonstrukte als etwas abwegig Fremdes darzustellen, dass von aussen in das idyllische Gesellschaftsideal eindringt, wie ein Virus sein Opfer heimlich und ohne Bissspuren befällt.

Ich finde diese Sichtweise fatal.

Nicht nur blockiert es das Verständnis und somit die Möglichkeit der Prävention, sondern es verkennt mehrere zutiefst menschliche Aspekte des Totalitarismus, wie wir im Folgenden sehen werden.

Unsicherheit und Sicherheit

Jeder Mensch ist von Beginn an von Unsicherheit umgeben. Manche mehr, andere weniger. Sei dies die Sorge um den Arbeitsplatz oder wegen der Deckung des täglichen Nahrungsbedarfs. Ständig werden die Menschen um uns herum mit Unsicherheit konfrontiert.

Dieser Umstand generiert das urmenschliche Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit. Wir wollen uns in unseren Häusern und auf unseren Strassen sicher fühlen. Wir wollen Klarheit und die Zuversicht, dass uns nicht übermorgen irgendwo ein Scharfschütze über den Haufen schiesst.

Dabei nimmt das Bedürfnis nach Sicherheit nach schwerwiegenden Ereignissen massiv zu. Auch kann das effektiv empfundene Mass an Sicherheit von Region zu Region und von den gemachten Erfahrungen abhängen. Beide sind somit individuell und subjektiv.

Dazu kommen gewisse Grundforderungen, von denen wir erwarten, dass die Gesellschaft sie uns erfüllt. Daneben gibt es zweitrangigere Forderungen, deren Erfüllung uns zwar wünschenswert erscheint, doch bei denen wir nicht gerade verhungern, wenn sie unerfüllt bleiben.

Das Wechselspiel zwischen dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit, dem effektiv empfundenen Mass an Sicherheit und die Befriedigung von Grundbedürfnissen bestimmt somit den Grad des Totalitarismus.

In Zeiten des Mangels

Wenn grundlegende Forderungen der Bürger nicht mehr erfüllt werden können, steigt ihre Unsicherheit. Wenn die Unsicherheit der Menschen zunimmt, steigt auch ihr Bedürfnis nach Sicherheit.

Aus dieser Lage heraus beginnen Menschen nun totalitäre Ansichten zu entwickeln. Sie gehen dabei graduell immer mehr Kompromisse bei Moral und Ethik ein, um die ihrer Meinung nach wichtigeren Aspekte der Gesellschaft grössere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Totalitarismus ist somit eine Antwort auf die persönlich empfundene Unsicherheit und dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit. Wenn die Menschen sich sicher fühlen und ihre Bedürfnisse grösstenteils befriedigt sind, werden sie kaum totalitäre Gedanken hegen.

Je grösser die Diskrepanz zwischen den Anforderungen und der persönlich empfundenen Realität, desto eher werden sich totalitäre Denkmuster ausbilden.

Demokratie

Da Demokratie in seinem Wesen nicht totalitär ist, bedarf es ein erhebliches Mass an persönlich empfundener Sicherheit und die weitreichende Deckung von Grundbedürfnissen, damit sie funktionieren kann. Denn sie lässt die Enden politisch offen und das Zulassen von Unsicherheiten in Form von Vertrauen ist nötig.

Doch dieses Vertrauen kann nur von einem üppig gedeckten Tisch aus entstehen. Denn indem alle möglichen Interessensgruppen, Lobbyisten und Ideologen zusammen kommen und ihren Teil einbringen können, entstehen neue Unsicherheiten, welche eine Demokratie schnell zerstören können, wenn der Tisch nichts mehr hergibt.

Dies könnte mitunter ein Grund dafür sein, warum sich die Demokratie im Nahen Osten noch nicht durchgesetzt hat.

Die Demokratie wandelt somit immer auf einem schmalen Grat und muss entscheiden, wieviel Unsicherheit sie einerseits zulässt und andererseits zu beseitigen vermag, ohne dabei in totalitäre Reaktionsmuster zu verfallen.

Totalitarismus im politischen Betrieb und in Krisenzeiten

Von diesem Standpunkt aus betrachtet, können totalitäre Denkmuster in jedem politischen Flügel und in jeder Menschengruppe auftreten, wenn die "richtigen" Gegebenheiten zusammenkommen. Niemand ist davon ausgenommen.

Dies kann aus Angst vor Machtverlust nach Jahrzehnten der politischen und gesellschaftlichen Dominanz geschehen. Das totalitäre Konzept der politischen Korrektheit ist eine Antwort auf eine solche Angst. Auch die Institutionalisierung und Verankerung des Feminismus in Form des Gender Mainstreaming in den Verfassungen und Gesetzesbüchern Europas ist auch eine Folge solcher Angst.

Auch aus unerfüllbaren Forderungen an die Gesellschaft können sich totalitäre Denkmuster ausbilden oder verhärten. Seien dies fundamentalistische Ansprüche von religiösen Gruppen oder die Sehnsucht nach vergangenen Regierungssystemen.

Krisenzeiten bringen interessante Beispiele totalitärer Konzepte hervor. So entwickelten die finnischen Widerstandskämpfer während den russisch-finnischen Grenzkonflikten im zweiten Weltkrieg ein einfaches System, um russische Infiltratoren zu identifizieren. Sie verwendeten sogenannte Schibboleths - Wörter, deren Aussprache verrät, welche Muttersprache der Sprecher (nicht) hat - mit denen sie Neulinge auf ihre Herkunft prüften. Konnte ein Prüfling das Wort nicht richtig finnisch aussprechen, wurde er sofort umgebracht.

Dies ist ein Paradebeispiel für die Entwicklung und Anwendung eines totalitären Instruments aufgrund von Unsicherheit und dem gestiegenen Bedürfnis nach Sicherheit aufgrund einer Krise.

Fragwürdige Legitimität von Totalitarismus

Totalitarismus könnte insofern legitim sein, als dass es den Menschen ihre Unsicherheit nimmt und ihnen ein Gefühl von Sicherheit gibt. Problematisch sind dabei jedoch die massiven Verluste an Menschlichkeit und die Tatsache, dass die wahren Probleme der Gesellschaft (Sicherheitsmangel und schlechte Bedürfnisbefriedigung) weiterhin bestehen.

Es besteht somit zusätzlich die Gefahr des verführerischen, trügerischen Scheins.

Schlussfolgerung

Indem wir akzeptieren, dass Totalitarismus eine Antwort auf Unsicherheit und mangelnde Bedürfnisbefriedigung und somit eine "natürliche", menschliche Reaktion ist, welche überall auftreten kann, ergeben sich interessante Konsequenzen.

Einerseits ist Totalitarismus nicht nur bestimmten Interessensgruppen vorbehalten, sondern kann überall auftreten.

Andererseits resultiert aus dieser Sichtweise, dass die beste Möglichkeit zur Bekämpfung von starken totalitären Strömungen nicht deren gewaltsame Unterdrückung, sondern die Etablierung von gesellschaftlicher Sicherheit und die Bedürfnisbefriedigung der Bürger sind.

Freilich schlummert Totalitarismus gerade wegen seiner zutiefst menschlichen Natur immer im Untergrund und kann somit nicht komplett ausgelöscht, sondern lediglich eingedämmt werden.

"Symbol des Totalitarismus"

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