Als ich noch klein war und meinen Wind noch nicht so unter Kontrolle hatte, sagte meine Grossmutter immer, dass jeder Furz ein Fünfliber wert sei. Dies passte natürlich wiederum meiner Mutter überhaupt nicht. Denn schliesslich soll man seinen Darm im Griff haben! Wie konnte man dann nur so eine Meinung (wenn auch nur zum Spass) von sich geben?
Neulich diskutierte ich mit einem meiner Kumpel über Kampfsport. Er war ein langjähriger Kampfsportler und deshalb verlief das Gespräch enthusiastisch und leidenschaftlich. Zumindest so lange, bis einer unserer Kommilitonen über den halben Hörsaal uns folgendes zurief: "Redet nicht über Gewalt!"
Vor einigen Jahren besprachen wir (wieder einmal) mit der Lehrerin das Thema Frauenrechte und Diskriminierung der Frauen weltweit. Aus jugendlicher "Naivität" heraus fragte ich, ob denn die einseitige Wehrpflicht nur für Männer nicht auch diskriminierend sei. Der entsetzte Blick in den Augen der Lehrerin sagte mir deutlich, dass sie darüber noch niemals nachgedacht hatte - oder nachdenken wollte.
Nach getaner Arbeit sassen Kumpels und ich im Bus auf dem Weg nach Hause. Man fragte mich, was ich denn so für Bücher lesen würde. Vor Faszination triefend erzählte ich ihnen von einem Buch über die
Geschichte der Kreuzzüge, dessen Autor es mit seiner packenden und spannenden Schreibweise schaffte, den Leser nicht mehr los zu lassen. Doch sobald sie die Wörter Kreuzzüge und Kreuzritter hörten, schalmeite es mir um die Ohren: "Aber Kreuzritter sind politisch inkorrekt!"
Was haben alle diese Erlebnisse gemeinsam? Sie alle handeln entweder von Denk-, Meinungs- oder Redeverboten. Oder alle drei auf einmal.
Unsichtbare Fesseln in meinem GeistAls ich aufwuchs, sagte man uns immer, wir sollen uns unsere eigene Meinung bilden. Wir sollten kein Wort für bare Münze nehmen und jeden Schein regelmässig hinterfragen. Es sei eine Voraussetzung für die Mündigkeit eines Individuums in unserer Gesellschaft, dass er seine eigene Meinung finden, entwickeln und vertreten könne.
Doch schnell merkte ich - weniger durch direkte Worte, sondern durch subtile Gesten - dass gewisse Bereiche für die eigene Meinungsfindung auch in unserer heutigen, freiheitlichen Gesellschaft absolut tabu waren. Gewisse Dinge durften nicht gesagt werden. Manche Sachen durften nicht in Erwägung gezogen werden. Nicht wenige Themen durften nicht angesprochen werden.
Die meisten verstanden - und gingen mit diesen Vorgaben konform. Sie passten sich an, nicht unbedingt weil sie einverstanden waren, sondern weil es leichter war, als sich in Opposition gegen die Mehrheitsmeinung zu begeben.
Auch ich habe es versucht. Ich habe mir ernsthaft Mühe gegeben, mich anzupassen, gewisse Meinungen zu adoptieren, auch wenn ich ihren verrotteten und ausgefransten Inhalt kaum in meinem Geist ertragen konnte. Ich versuchte mir vorzumachen, dass es ein Reifeprozess sei, der wie beim Genuss von alkoholischen Getränken eine bestimmte Gewöhnungszeit brauche, bis sich der lustvolle Geschmack einstelle.
Doch ich schaffte es nicht.
Noch bevor ich überhaupt Zugang zu unabhängigen Quellen, unverfälschten Fakten und Individuen mit genügend Rückgrat und Stärke zur eigenen Meinung besass, spürte ich schon, wie gewisse Meinungen und Gedanken anderer für mich nicht in Frage kommen konnten. Noch ohne die Logik ihrer Widerlegung für mich beanspruchen zu können, fühlte ich, wie diese Meinungen niemals zu mir passen konnten.
Rückblickend empfinde ich jene Zeiten als Qual, in denen ich abscheuliche Gedanken in meinen Geist herabpresste und nur mühsam den unweigerlichen Drang zu würgen und zu röcheln unterdrücken konnte. So wie
Prometheus am Kaukasus gekettet wurde, da er eine (in den Augen der Götter) unverschämte Tat vollbrachte (den Menschen das Feuer zu bringen), so litt ich an den unsichtbaren Fesseln in meinem Geist.
Der entfesselte PrometheusDoch egal wieviel Mühe ich mir gab, mich anzupassen, irgendwann schlichen sich Fakten und andere Weltanschauungen in meinen Geist hinein. Genauso wie ein Jugendlicher verstohlen und mit vorsichtigen Blicken in allen Richtungen seine erste Zigarette oder sein erstes Bier noch weit unter dem dafür vorgesehenen Mindestalter konsumiert, setzte auch ich mich sehr bald mit Meinungen und Ansichten auseinander, vor denen die meisten in meinem Umfeld aus Angst vor Gesichtverlust zurückwichen.
Im Nachhinein darf ich sagen, dass dies nicht etwas ist, was ich aktiv betrieben hätte. Im Gegenteil, es fühlt sich so an, als würde ich eher widerwillig davon angezogen. Als wollte etwas mit aller Gewalt in meinem Kopf um endlich die Dinge richtig zu stellen und eine ewige Sehnsucht nach eigener, unverfälschter Meinung zu befriedigen.
Doch erst nach Jahren der Verstohlenheit, der verheimlichten Gedanken und der Furcht vor Konfrontation nahm ich eine folgenschwere Entscheidung.
Ich löste mich von Verboten welche das freie Denken, das unverblümte Sprechen und die eigene freie Meinungsbildung beschränkten. Ich warf all den gedanklichen Dreck und den pseudointellektuellen Müll über Bord. Ich zerriss die politische Korrektheit in der Luft und mit den übrig gebliebenen Fetzen beheizte ich eine endlose Debatte in meinem Kopf, welche mir so viel mehr versprach als nur gesellschaftliche Akzeptanz.
Von nun an würde ich jedes Tabu und jedes Verbotsschild, welches andere in meinem Kopf installiert hatten in Frage stellen. Konnte ich die Logik hinter ihnen verstehen, behielt ich sie bei. Waren sie jedoch von Irrationalität und von persönlichen oder politischen Interessen anderer durchsetzt, verbrannte ich sie mit all der über die Jahre angestauten Wut ob der unfreiwilligen Fremdbestimmung.
Und ich machte daraus auch öffentlich keinen Hehl mehr. In Folge dessen verlor ich Menschen aus meinem Umfeld, doch gewann unzählige Neue dazu, so dass ich schlussendlich heute - in den Augen mancher als gesellschaftlicher Pariah - sozial wesentlich gefestigter dastehe, als ich es früher jemals zu träumen wagte.
Der Sinn von Denkverboten Da dies jetzt schon Jahre zurückliegt, kann ich nun mit nüchternem Verstand und weniger von jugendlichem Befreiungs- und Revolutionswahn gewisse gesellschaftliche Menchanismen beurteilen, ohne mehr blind von ihnen betroffen zu sein.
Eine Gesellschaft funktioniert nur mit klaren Regeln und mit Autorität. Es braucht Verbote und Bestrafung und eine gewisse Homogenität um den Menschen eine Orientierung und einen Fixpunkt bezüglich ihrer eigenen Identität und Position in der Welt bieten zu können. Je nach Sachzwängen ist die Gesellschaft auf mehr Homogenität, strengeren Regeln und härteren Verboten angewiesen.
Sind Ressourcen knapp und das Umfeld strotzt nur so vor Gefahren, so wird eine Gesellschaft um das Überleben zu sichern straffere Zügel anlegen oder untergehen. Kann sie sich eine gewisse Trödelei leisten, da Ressourcen im Überfluss vorhanden und der Feind besiegt ist, so werden sich lockerere Umgangsweisen und weniger Strenge durchsetzen.
Dass zum Beispiel das mittelalterliche Denkverbot, die katholische Kirche und den Glauben nicht in Frage zu stellen, für uns wenig Sinn macht, liegt daran, dass sich das Umfeld der Gesellschaft in den letzten 1000 Jahren so massiv gewandelt hat, dass dieses Denkverbot obsolet wurde. Denn der Glaube war an vielen Orten Europas damals das Einzige, was die Gesellschaft vor der völligen Anarchie bewahrte und somit die (wenn auch in unserer Augen zweifelhafte) Stabilität garantierte.
Man muss somit unterscheiden zwischen Denkverboten, welche die Stabilität einer Gesellschaft sicherstellen und politischen, persönlichen Denkverboten, welche geschaffen wurden, um Sonderinteressen gewisser Gruppen durchzusetzen. Während die Logik es unter Umständen zulässt, dass die Verbote erster Art ein Existenzrecht besitzen können, so wird die Irrationalität der Verbote zweiter Art schnell deutlich. Denn sie existieren unabhängig von gesellschaftlicher Instabilität und bedienen nicht die Interessen der Mehrheit, sondern einer Minderheit.
Freilich sind die Grenzen fliessend und vielfach ist keine klare Unterscheidung vom Punkt der eigenen Involviertheit heraus möglich.
Deshalb gibt es einen Unterschied zwischen jenen, welche ALLE Denkverbote der Gesellschaft aus Prinzip ablehnen und jene, welche Denkverbote politischer und persönlicher Natur ablehnen. Der Eine ist ein hirnloser Anarchist, während der Andere schlichtweg seine eigene Meinung aus eigener Kraft bilden möchte. So wie es jedem Europäer als Pflicht auferlegt wurde.
SchlussfolgerungEs ist generell zu begrüssen, die eigene Freiheit auszudehnen und Verbote, die das Denken, Reden und die eigene Meinung betreffen, aufzuheben. Allerdings ist es dazu nötig, die Logik und den Sinn eines Denkverbotes vorher zu ergründen. Wurde es geschaffen, um die Gesellschaft zu stabilisieren? Oder existiert es um die Interessen einer Minderheit durchzusetzen?
Ein Denkverbot der ersten Art wäre zum Beispiel das Funktionieren und das Hinterfragen der Demokratie. Europa ist demokratisch (mit einigen wenigen Ausnahmen) und wenn nun die Menschen anfangen würden, die Demokratie in Frage zu stellen, verlieren demokratische Regierungen an Rückhalt.
Ein Denkverbot zweiter Art wäre die politische Korrektheit. Denn ohne sie würde die Gesellschaft nicht untergehen und mit ihr wird jegliche Kritik an desolaten Zuständen (Parallelgesellschaften, fehlende Integration ...) verboten. Sie bedient somit die Interessen einiger weniger Gruppen, welche von diesen Zuständen direkt oder indirekt profitieren.
Die Aufhebung des ersten Denkverbotes würde massive Instabilität und Chaos in einer demokratischen Gesellschaft hevorrufen und es ist somit logisch, es intakt zu lassen. Die Entfernung des zweiten Denkverbotes wäre sinnvoll, weil so die Korrektur misslicher Zustände endlich pragmatisch angepackt werden kann.
Heute begreife ich, dass ich auch in meinen wildesten Jugendjahren niemals ein Problem mit den Denkverboten erster Art hatte, ich jedoch mit den Denkverboten zweiter Art nicht klar kam.
Prometheus bringt den Menschen das Feuer und somit die Zivilisation